«Der Beobachter» gewinnt den Prix Transparence 2022
Ein düsteres Kapitel Schweizer Fürsorgegeschichte aufgearbeitet: Journalist Demuth.
Von Martin Stoll. Hartnäckig verlangte er Fakten zu internierten jungen Frauen – und konnte belegen, dass Schweizer Heimkinder in Fabriken öfter ausgebeutet wurden, als bisher bekannt war. Dafür wird der «Beobachter»-Journalist Yves Demuth mit dem Prix Transparence 2022 ausgezeichnet.
Gestützt auf Behördendokumente realisierten Schweizer Medienschaffende auch im letzten Jahr wichtige Recherchen: Sie zeigten auf, dass in einigen Kantonen Zivilschutzräume fehlen oder dass die Luft in Schulen teils schlecht ist. Zur besten Transparenzstory des Jahres 2022 kürte eine Fachjury und der Vorstand des Vereins Öffentlichkeitsgesetz.ch den Beitrag des «Beobachters» zur Zwangsarbeit junger Frauen.
Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz des Bundes hat «Beobachter»-Journalist Yves Demuth Zugang zu einer Datenbank des Bundesarchivs verlangt. Darin sind die Institutionen erfasst, in die Teenager aus jenischen Familien bis Mitte der Siebzigerjahre von Fürsorgebehörden interniert wurden. Erst auf Druck von Betroffenen und Forschenden kam der «Beobachter»-Journalist an darin verzeichnete Informationen.
Datenschutz-Argumente waren nicht plausibel
Aus Datenschutzgründen verweigerte das Bundesarchiv zunächst konkrete Angaben aus dem internen Findmittel. «Dabei ging es nicht um Namen, sondern um nackte Zahlen», sagt Demuth rückblickend. Ihm seien präzise Informationen zur Anzahl Betroffener wichtig gewesen: «Dass in Fabrikheim noch in der Nachkriegszeit neun Teenagerinnen untergebracht waren, die ihren Eltern aus rassistischen Gründen, alleine weil sie Jenische waren, weggenommen worden sind, ist eine relevante Information.»
Preisträgerinnen und Preisträger des Prix Transparence
Öffentlichkeitsgesetz.ch verleiht den Prix Transparence zum fünften Mal. Damit ausgezeichnet werden Medienschaffende, welche ein Öffentlichkeitsgesetz zielführend und wirkungsvoll anwenden.
Ein Pokal, der vom Berner Kunstglaser Daniel Stettler aus Berner Amtshaus-Sandstein und Glas geschaffen worden ist, wurde der «Beobachter»-Redaktion in Zürich übergeben.
- 2021 wurde die Journalistin Adrienne Fichter («Republik») Mit amtlichen Dokumenten hat sie bundesinterne Diskussionen über eine Privatisierung der elektronischen Identität rekonstruiert.
- 2020 wurden die Journalisten Jan Jirát, Kaspar Surber und Lorenz Naegeli («WOZ – Die Wochenzeitung») geehrt. Fünf Jahre kämpften sie für Daten, die einen tiefen Einblick ins Schweizer Rüstungsgeschäft ermöglichten.
- 2019 wurden Nina Blaser und Anielle Peterhans («Rundschau») ausgezeichnet. Sie brachten die Fakten über die Preisverhandlungen zu einem Krebsmedikament auf den Tisch.
- 2018 wurde Philippe Boeglin («La Liberté») geehrt. Er enthüllte mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes Spesenexzesse der Armee.
Um solche Angaben aus der archivinternen Arbeitshilfe zu erhalten, wehrte sich Demuth auch beim Öffentlichkeitsbeauftragten des Bundes in einem Schlichtungsverfahren. «Mir leuchteten die Datenschutz-Argumente der Verwaltung nicht ein», sagt er.
Das Öffentlichkeitsgesetz kreativ eingesetzt
Die erkämpften Informationen waren die Grundlage für eine umfassende Recherche zu einem – laut Demuth — «repressiven System der Fürsorgebehörden, das aus 16- bis 20-jährigen jungen Frauen sittsame und angepasste Ehefrauen formen sollte.»
Yves Demuth habe das Öffentlichkeitsgesetz kreativ eingesetzt und damit Dokumente ausfindig gemacht, die seine Recherche ergänzten, sagt Mattias Greuter, Jury-Mitglied und Verlagsleiter der Schaffhauser AZ. Das vom Prix-Transparence-Gewinner gezeichnete Gesamtbild zeige «das grosse Leid, das den jungen Mädchen zugefügt wurde – und dass die Schweizer Industrie davon profitiert hat.»
Wasserkraft und Zucker-Lobby auf Platz zwei und drei
Mit dem zweiten Platz geehrt wird eine Recherche der freien Journalistin Catherine Duttweiler zur Energiewende. Sie erkämpfte sich – ebenfalls für den «Beobachter» – mit einem Schlichtungsverfahren eine Liste mit Wasserkraft-Projekten. Diese sollen aktiviert werden, wenn von einem Runden Tisch favorisierte Vorhaben nicht umgesetzt werden können. Der Journalist Florent Quiquerez wird mit seinem in «Le Matin Dimanche» erschienenen Artikel zum Lobbying von Süssgetränkeherstellern mit dem dritten Platz ausgezeichnet. Er konnte mit Verwaltungsdokumenten belegen, dass eine Vorlage über eine obligatorische Zahnversicherung mit Geld von Süssgetränke-Herstellern bekämpft wurde.
Regionalpreis geht an «Zentralplus»
Zum ersten Mal wird dieses Jahr auch der beste Regionalbeitrag gekürt. Den Prix Transparence Regio gewinnt die Innerschweizer News-Plattform «Zentralplus». Journalist Kilian Küttel recherchierte akribisch zum unerwarteten Rücktritt des Zuger Sicherheitsdirektors Beat Villiger. Gestützt auf das Zuger Öffentlichkeitsgesetz verlangte er Regierungsratsprotokolle heraus, in denen die Regierung Villigers Gesundheitszustand, seine Auszeit und seinen Rücktritt thematisiert wurden. Laut diesen wurde noch vor dem offiziellen Rücktritt Geschäfte und Abläufe der Sicherheitsdirektion – unter grösster Diskretion — «auf ihre Ordnungsmässigkeit hin» überprüft.
Auf dem zweiten Platz des Regio-Preises rangiert Philipp Zimmermann von der «Aargauer Zeitung». Er machte eine Intervention des Aargauer Justizdirektors wegen illegalen Fahrverbots-Überwachung durch die Polizei publik. Die Westschweizer Journalistin Chloé Din (24 heures) wird mit dem dritten Platz ausgezeichnet. Die Zeitung kämpfte vor Gericht für den Zugang zu einem Prüfbericht zum 235 Millionen Franken teuren Centre Sportif de Malley (CSM und konnte zeigen, wie riskante Entscheidungen getroffen wurden.
Insgesamt hat Öffentlichkeitsgesetz.ch 81 Beiträge aus Presse, Rundfunk und TV evaluiert, welche 2022 mithilfe eines Öffentlichkeitsgesetzes realisiert worden sind. Zehn davon wurden für den Prix Transparence 2022 nominiert.